Wissenschaftler stellen die beiden Studien zur Aufarbeitung der Vorfälle an der Odenwaldschule vor
Wiesbaden. Die wissenschaftlichen Vertreter des Instituts für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock, Prof. Dr. Jens Brachmann, und des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung München, Dr. Florian Straus, stellen heute auf Einladung des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration gemeinsam mit Adrian Koerfer, dem ehemaligen Gründungsvorsitzenden von "Glasbrechen e. V.", MdL Marcus Bocklet als Berichterstatter der Petition 18/1640 einer ehemaligen Odenwaldschülerin und Prof. Dr. Volker Kraft vom Beirat der Odenwaldschule die beiden Studien zur Aufarbeitung der Vorfälle an der Odenwaldschule vor.
Beide Studien sind 2014 vom damaligen Trägerverein der Odenwaldschule und dem Zusammenschluss der Betroffenen, Glasbrechen e.V., in Auftrag gegeben und vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration mit insgesamt etwa 100.000 Euro mitfinanziert worden. Während sich die Münchner Studie stärker mit einer sozialpsychologischen Perspektive und dem Fokus auf qualitative Interviews befasste, hatte die Studie aus Rostock einen historisch-erziehungswissenschaftlichen Schwerpunkt, der methodische Fokus war die Aktenanalyse.
„Nicht zuletzt dank dieser Studien wissen wir, dass wir eine gesamtgesellschaftliche und vor allem auch staatliche Mitverantwortung für das tragen, was versäumt wurde. Wir müssen Mädchen und Jungen, Männer und Frauen vor sexueller Gewalt schützen. Das gilt besonders in Institutionen. Die Übergriffe und Verletzungen in der Odenwaldschule, die bereits im Tilmann/Burgsmüller-Bericht 2010 benannt und in den beiden nun vorliegenden Gutachten nun noch eingehender dokumentiert wurden, zeigen auch, dass die staatlichen Institutionen ihrer Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen nicht gerecht geworden sind“, sagt Minister Klose. Die furchtbaren Missbrauchsfälle zeigen, dass die offene und schonungslose Aufklärung der einzig richtige Weg im Umgang mit sexuellen Übergriffen sein kann. Klose betont: „Die nun vorgelegte unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung kann nichts wiedergutmachen. Sie soll aber dazu beitragen, Transparenz über das dort entstandene System herzustellen, das diese Übergriffe ermöglichte und begünstigte. Die Gutachten liefern wichtige Erkenntnisse, die für das Kinderschutzsystem insgesamt von hohem Interesse sind und helfen uns, dieses Schutzsystem fortlaufend zu verbessern.“
Die Studie „Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt – eine sozialpsychologische Perspektive“ legt das Institut für Praxisforschung und Projektberatung München (Prof. Dr. Keupp, Dr. Mosser, Hr. Hackenschmidt, Fr. Busch, Dr. Straus) vor. Die Studie ist als Buchveröffentlichung im Springer-Verlag erschienen und beschreibt das Missbrauchssystem der Odenwaldschule und die Bedingungen seiner Aufrechterhaltung in allen Zusammenhängen und Einzelheiten, belegt durch Erinnerungen und Erfahrungen von Betroffenen. „Bei unserem Forschungsvorhaben ging es uns vor allem darum, die Entstehung und jahrzehntelange Aufrechterhaltung sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule zu erklären. Zentral war dabei das Anliegen, Erkenntnisse vor allem auf der Basis der Sichtweisen ehemaliger Schüler*innen und Betroffener zu generieren“, so Dr. Florian Straus, Geschäftsführer des IPP München.
Die Studie der Universität Rostock (Prof. Dr. Brachmann, Hr. Langfeld, Hr. Schwennigcke, Hr. Marseille), „Tatort Odenwaldschule – Tätersysteme und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt“, widmet sich intensiv den Tätern und ihrem systematischen Vorgehen und beleuchtet die Kontexte der immer wieder gescheiterten Aufdeckung und Aufarbeitung sehr genau. Die Autoren stützen sich in ihrer Arbeit vor allem auch auf die Akten der aufgelösten Odenwaldschule, die der Forschung vom Hessischen Staatsarchiv in kurzer Zeit zugänglich gemacht wurden. Sie beleuchten Vorgänge und Strukturen ganz genau und kommen zum Fazit: „Die Odenwaldschule konnte keine Zukunft haben, weil sie sich nicht der Aufarbeitung der Verbrechen stellte.“ Die Studie wird in Kürze im Klinkhardt-Verlag erscheinen.
„Pädosexuelle Gewalt ist Ausdruck eines Systemversagens. Auf der Grundlage umfangreicher Quellenstudien und kulturhistorischer Analysen dokumentiert die Studie „Tatort Odenwaldschule“ die Vorkommnisse in dem einstigen südhessischen Reforminternat als ein erschütterndes Beispiel für eine geschlossene Organisation, in der Heranwachsende seit den 1960er-Jahren hundertfach einem „Tätersystem“ ausgeliefert waren“, betont Prof. Dr. Jens Brachmann, Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock.
„Es gibt noch vieles – hoffentlich gemeinsam – zu tun. Lassen Sie uns alle den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt immer wieder ganz oben auf unsere Agenda setzen. Denn: Die Auswirkungen der Verbrechen können Sie sich alle nicht verheerend genug vorstellen“, so Adrian Koerfer, langjähriger Gründungsvorsitzender des Opfervereins Glasbrechen e.V.
„Ausgleichen oder gar wiedergutmachen lässt sich das vielfach erlittene Unrecht durch Wissenschaft nicht. Möglich ist aber immerhin, den seinerzeit vom Missbrauch Betroffenen und den damit verbundenen lebenslangen Folgen mit Mitteln der Wissenschaft besondere Aufmerksamkeit zu schenken und zu deren Anerkennung beizutragen“, so Volker Kraft, ehemaliger Sprecher des "Unabhängigen Beirats zur Aufklärung des Missbrauchs an der Odenwaldschule.“
Marcus Bocklet, der als Berichterstatter die Petition einer Schülerin der Odenwaldschule neun Jahre betreute, sagt: „Mit diesen erschütternden Studien ist nunmehr amtlich, was an der Odenwaldschule passierte und lange nicht geglaubt und vertuscht werden sollte: Ein breites System von Personen und Institutionen ist seinem Schutzauftrag gegenüber Kindern nicht nachgekommen. Auch Ämter haben versagt. Für die Zukunft muss das eine Lehre sein, wir müssen alles daransetzen, dass sich das nie wiederholt. Deshalb arbeitet das Land Hessen konsequent daran, den Landesaktionsplan gegen sexuelle Gewalt fortzusetzen. Der Schutz vor sexueller Gewalt bleibt ein täglicher politischer Handlungsauftrag.“
Ein wichtiger Baustein in der Aufarbeitung des damals begangenen Unrechts ist dabei auch die Stiftung „Brücken bauen“, die mit ihren unterschiedlichen Hilfemaßnahmen die Opfer unterstützt. Das Land Hessen stellt der Stiftung für den Zeitraum bis Ende des Jahres 2019 einen Betrag von insgesamt 100.000 Euro zur Verfügung.
Sozial- und Integrationsminister Kai Klose bedankt sich bei den Wissenschaftlern, besonders aber bei den Betroffenen, die bereit waren, ihre Erinnerungen und Erfahrungen beizutragen. „Diese Studien und die darin enthaltene Aufarbeitung sind kein Abschluss, sondern eine Fortsetzung der Arbeit seit 2010. Wir wollen mit allen Beteiligten im Gespräch bleiben und Raum für die Auseinandersetzung schaffen“, betont der Minister.
Hessen hat nach der Aufdeckung des Missbrauchs an der Odenwaldschule bereits 2012 auf Anregung des Landespräventionsrats mit einem Kabinettsbeschluss den „Landesaktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt in Institutionen“ vorgelegt. Dieser Plan wird seitdem konsequent umgesetzt und vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration koordiniert. Beispielsweise wurden die Mittel für Beratungsstellen auf knapp 2,2 Millionen Euro verfünffacht, mit denen 54 Beratungsangebote gefördert werden. Maßnahmen und Programme im schulischen Kontext wurden aufgelegt, das Präventionsprojekt "Kein Täter werden" gegründet. Kinderschutz in Ausbildung und Studium wurde in Foren vorgestellt und diskutiert, es wurden Leitfäden für Schutzkonzepte entwickelt und bis heute führt Hessen viele stark nachgefragte Fortbildungen zum Thema durch. „Der Schutz vor sexueller Gewalt genießt für die Landesregierung höchste Priorität“, schließt Klose.
Unter dem Link https://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/2299.html können Sie einen Vorabdruck der Studie „Tatort Odenwaldschule“ von Professor Dr. Brachmann herunterladen. © HSM