Das EU-Informationszentrum im Regierungspräsidium Gießen und die Landeszentrale für politische Bildung luden zum Infolunch ins Alte Schloss
Gießen. Was für ein Verhältnis haben die Briten zur Europäischen Union? Welches Selbstverständnis treibt sie an? Wie sieht eine gemeinsame Zukunft der Insel mit dem Kontinent aus? Alle diese Fragen stehen im Raum, wenn man sich überlegt, wie es zur Brexit-Entscheidung vor dreieinhalb Jahren kam. Der Journalist und Autor Thomas Kielinger, der selber seit über zwanzig Jahren in London lebt, gab einen fundierten Einblick in das Innenleben der britischen Gesellschaft: „Die Briten sind eine Nation von Spielern und Seefahrern – da scheut man nicht das Risiko.“
„Die EU steht für uns wie selbstverständlich für Frieden und Wohlstand“, erklärte Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich. Umso unverständlicher sei für ihn die Entscheidung Großbritanniens die EU zu verlassen. Dieses Unverständnis passt insofern zum Redner Kielinger, der es sich als England-Kenner zur Aufgabe gemacht hat, das Verständnis rund um den angestrebten Austritt und die Triebkräfte der britischen Gesellschaft zu verbessern. Gemeinsam mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung lud das Gießener EU-Informationszentrum zum Infolunch in den Netanya-Saal des Alten Schlosses.
„Großbritannien ist in einen Club eingetreten, aus dem man auch austreten kann“, erklärte er die nunmehr 46-jährige Mitgliedschaft in der EU. Die Briten seien keinesfalls verrückt, sie folgten lediglich ihrer Natur. Historisch sei das Vereinigte Königreich geprägt von einem tiefen Freiheitsstreben gegenüber kontinentalen Einflüssen und dabei stets auf seine Souveränität bedacht. Das finde sich immer wieder: Bei der Trennung von der römischen Kirche durch Heinrich VIII. oder auch beim Aufbau der Flotte und der folgenden Kolonialpolitik durch Elisabeth I.
Mit Blick auf die Folgen der internationalen Finanzkrise vor mehr als zehn Jahren seien die innenpolitischen Probleme gerade in den Bereichen medizinischer Versorgung und Pflege offenkundig. Gepaart mit dem Einwanderungsdruck durch die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU fühlten sich die Briten darum schon lange von Brüssel in seiner Unabhängigkeit eingeschränkt.
Es sei ein historischer Fehler des damaligen Premiers David Cameron gewesen, gerade mit dem Begriff der Souveränität im Vorfeld des Brexit-Referendums zu arbeiten und gleichzeitig für einen Verbleib in der EU zu werben. Die Folge dieser Wirrnisse ist, dass England seitdem politisch gelähmt sei. Der deutliche Wahlsieg der Tories sei darum als Auftrag an Premierminister Boris Johnson zu verstehen, jetzt das Ruder zu übernehmen und endlich wieder zu regieren. „Der Brexit birgt Risiken, aber die Briten können damit umgehen. Das liegt in ihrer Natur als risikofreudige Spieler.“
Der eingehendste Appell laute nach Ansicht Kielingers darum: „Für die im kommenden Jahr folgenden Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen England und der EU ist Flexibilität gefragt. Das gilt auch für Brüssel.“ Das Ende der britischen EU-Mitgliedschaft bedeute nicht das Ende der europäischen Verflechtungen auf der Insel. Das Vereinigte Königreich wolle unabhängig sein, aber trotzdem in einer Partnerschaft mit dem Kontinent leben. „Wir dürfen England nicht zum zweiten Mal verlieren.“ Kielinger prognostizierte auch weitere innenpolitische Debatten innerhalb der zerstrittenen britischen Gesellschaft. Angesichts des wahrscheinlichen EU-Austritts sei ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland durchaus möglich, wo bei der Parlamentswahl die sezessionistische SNP der große Wahlgewinner war. Aber auch in Nordirland haben die Unionisten große Verluste erleiden müssen. „Möglicherweise sprechen wir in zehn Jahren von einer irischen Wiedervereinigung.“
„Ich kenne und schätze Boris Johnson. Er steht nun vor einer großen Herausforderung. Er muss dem Vereinigten Königreich seine Souveränität wiedergeben, die innenpolitischen Probleme lösen und eine tief gespaltene Gesellschaft wieder zusammenführen.“ Als Absolvent der Eliteschule in Eton und ehemaliger Präsident des größten Debattierclubs in Großbritannien habe er die Überzeugung Großes leisten zu müssen. „Viel wird davon abhängen, wie kooperativ sich die EU gegenüber Großbritannien zeigt.“
Regierungspräsident Dr. Ullrich dankte Kielinger für das Werben um das Verständnis für die Briten: „Ich habe nun besser verstanden, warum sie das tun, auch wenn es schwer zu begreifen ist.“ Dabei betonte er aber auch die Verantwortung der EU für die zukünftigen Beziehungen, denn mit Blick auf die vergangenen Jahre dürfe man nicht herumeiern. „Damit stärkt man politische Randpositionen und Populismus.“ © RP Gießen