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Buchvorstellung und Vortrag. Nationalsozialismus in Oberbrechen – Geschichte und Wirkung

Der Arbeitskreis Historisches Brechen in Verbindung mit der Gemeinde Brechen lädt für Dienstag, 30. September 2025, um 19.00 Uhr zu einer Buchvorstellung, verbunden mit einem Vortrag „Oberbrechen - Ein Dorf setzt sich mit seiner NS-Vergangenheit auseinander“ ins Pfarrzentrum Oberbrechen (Frankfurter Straße 50) ein.
Die beiden Autorinnen, Dr. Stefanie Fischer (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin) und Dr. Kim Wünschmann (Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg), stellen ihr viel beachtetes Buch „Oberbrechen: A German Village Confronts Its Nazi Past. A Graphic History“ mit vielen Hintergrundinformationen zur Entstehung des Buches vor.
In ihrem Vortrag gewähren sie auf Basis intensiver Recherchen interessante Einblicke in die Oberbrechener Geschichte zwischen 1933 und 1945 und der früheren und späteren Zeit der Aufarbeitung von Nationalsozialismus und Holocaust im Lokalen. Sie zeigen Beziehungen zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Dorfbewohner*innen in Oberbrechen auf und gehen dem Schicksal der Jüdinnen und Juden nach, berichten über Zwangsexil, Zwangsumsiedlung, Deportation und Ermordung. Aufgezeigt werden die von Josef Kramm und Eugen Caspary ab den 1970er Jahren begonnenen Kontaktaufnahmen mit den Überlebenden, ihren Angehörigen oder Nachkommen, deren Besuche in Oberbrechen und die aktuellen Kontakte, die gerade von Stefanie Fischer und Kim Wünschmann (einer Enkelin von Josef Kramm) gepflegt werden.
Fragen aus dem Publikum sollen die Veranstaltung abrunden.

Zum Buch
Ihr 2024 in englischer Sprache im Verlag Oxford University Press erschienenes Buch „Oberbrechen: A German Village Confronts Its Nazi Past. A Graphic History“, ist ein Novum, betreten die beiden Historikerinnen mit der Kombination von Comic (Illustratorin Liz Clarke, Kapstadt/ Südafrika), Dokumentation und Sachbuch Neuland in den Geschichtswissenschaften.
Als historische Forschung im graphischen Medium („Graphic History“) untersucht die Studie in fesselnden und bewegenden Comic-Bildern und Texten das Schicksal der jüdischen Einwohner*innen von Oberbrechen während der NS-Zeit, schildert ihre Beziehungen und geht dem Wunsch nach Versöhnung und Aufarbeitung in der Zeit nach 1945, vor allem ab den 1970er Jahren, nach.
Hierbei greifen die beiden Autorinnen auf ihre langjährigen und intensiven Quellenrecherchen sowie Kontakten und Interviews mit Betroffenen und deren Angehörigen und Nachkommen zurück. Hieraus ist eine authentische Erzählung im Comic-Format entstanden, die mit einer Vielzahl von teilweise unveröffentlichten Originalquellen (Akten, private Briefe etc.) und mit fundierten historischen Hintergrundinformationen, Erläuterungen und Reflexionen ergänzt wird und so einen Bezug zur „großen Geschichte“ herstellt.
Die Comic-Erzählung und der erläuternde Sachbuchteil bilden eine vielschichtige und tiefgreifende Analyse, die nachvollziehen lässt, wie die jeweils handelnden Personen in ihrer Zeit agieren und leben, wie sie ihr Handeln empfinden und wie sie später mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit umgehen.

 

Interessant ist dabei auch die Stellung der beiden Autorinnen, die sich Dank des Mediums „Comic“ an Stellen selbst mit einbeziehen, an denen die Erzählung ihre eigene Biografie berührt - sie werden Teil der Erzählung und können damit ihre eigene Positionen aufzeigen.
Oberbrechen mag als Ort genannt sein und das Schicksal und Handeln der dort lebenden jüdischen und nichtjüdischen Bewohner*innen aufzeigen, letztlich stehen aber Ort und Schicksale beispielhaft für die vielen andere Orte in Deutschland, wo sich ähnliches ereignet hat. Damit geben Comic („Graphic History“) und Sachbuchteil einen tiefen Einblick, wie „normale“ Menschen den Alltag und die Herausforderungen von Diskriminierung, Rechtlosigkeit, Verfolgung, Gewalt und Mord der NS-Zeit erlebten und erduldeten und wie der spätere Prozess einer Bewusstmachung des Unrechts, einer gegenseitigen Annäherung, Wiederbegegnung bis hin zu einer möglichen Versöhnung ausgesehen haben können.

Zu den Autorinnen und Referentinnen
Dr. Stefanie Fischer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Sie lehrt im Masterstudiengang interdisziplinäre Antisemitismusforschung und hat zahlreiche Studien auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Geschichte und der Geschichte des Holocaust veröffentlicht. (siehe auch https://www.tu.berlin/asf/ueber-uns/team/wissenschaftliche-mitarbeitende/fischer-stefanie)
Dr. Kim Wünschmann ist Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg und lehrt an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der deutsch-jüdischen Geschichte, den Holocaust-Studien, der Rechts- und Diplomatiegeschichte sowie der Comic-Forschung. Vielen aus Oberbrechen wird sie als Enkelin des verstorbenen Bürgermeisters von Oberbrechen bzw. Brechen, Josef Kramm, bekannt sein. (siehe auch https://www.igdj-hh.de/igdj/team/dr-kim-wuenschmann)

Ins Deutsche übersetzte Stimmen zu dem Buch (Buch-Rückseite)
• "Stefanie Fischer und Kim Wünschmann sind zu gratulieren, dass sie eines der kreativsten und brauchbarsten Bücher zur Geschichte des Holocaust seit dem Erscheinen von Art Spiegelmans „Maus“ geschrieben haben. Basierend auf beeindruckenden historischen Recherchen stellt dieser schmale, aber vollgepackte Band einen neuen Zugang zur Geschichte des Holocaust und des immer noch drohenden Schattens dieses schrecklichen Ereignisses dar." (John Efron, Universität von Kalifornien, Berkeley)
• "Basierend auf fundierten lokalen Recherchen erzählt diese bemerkenswerte und höchst originelle grafische Geschichte die bewegende Geschichte des hessischen Ortes Oberbrechen und wie sie sich der Wahrheit ihrer NS-Vergangenheit stellte. Mit knackig geschriebenen Texten und bewegenden Zeichnungen erzählt es diese Geschichte als eine deutsche Geschichte, eine jüdische Geschichte und eine Geschichte der deutsch-jüdischen Zusammenarbeit. Ein inspiriertes Werk - ein Muss!" (Helmut Walser Smith, Vanderbilt Universität)
• "Diese Graphic History bietet ein fesselndes und bewegendes Porträt der Erfahrungen und Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden vor, während und lange nach den Verwüstungen des Nationalsozialismus und des Holocaust. Er erweckt Briefe, Zeitungsartikel, Tagebucheinträge und Gerichtsverfahren (die im Band enthalten sind) zum Leben, die das Leben, die Vertreibung, den Mord und die Flucht- und Versöhnungsversuche der Dorfbewohner von Oberbrechen nachzeichnen." (Katherine R. Jolluck, Universität Stanford)

 

Jüdisches Leben in Oberbrechen
Mit dem am 01.07.1711 von Erzbischof und Kurfürst von Trier Karl III. Joseph von Lothringen datierten Schutz- und Geleitbrief für „Sander Juden zu Oberbrechen wohnhafft“, liegt ein erster schriftlicher Nachweis vor, dass in Oberbrechen Juden wohnen. 1803 leben in Oberbrechen acht jüdische Personen, namentlich genannt sind das Ehepaar Samuel und Jettchen Jessel geb. Joseph und dessen Kinder Gumbrich und Seeligmann Samuel. 1866-1933 werden 37 jüdische Kinder in die Oberbrechener Volksschule aufgenommen und erfahren mit ihren christlichen Mitschülern eine gemeinsame Schulbildung. Beide Gruppen werden gleichbehandelt, es gibt keine Ausgrenzungen; lediglich in Religion werden die Kinder getrennt unterrichtet. In den 1920er Jahren setzen sich die jüdischen Bürger als aktive und fördernde Mitglieder mit großem Engagement für die Oberbrechener Ortsvereine ein: In der Chronik der TSG Oberbrechen ist unter dem 09.07.1921 Max Stern als neu gewählter 2. Schriftführer und sind 1922 Moritz und Max Stern unter den Mitgliedern des erstmals gewählten Sportplatzausschuss aufgeführt. Im Festbuch zum 60-jährigen Bestehen des MGV Eintracht Oberbrechen sind 1927 Hermann Blumenthal, Arthur Stern, Gustav Stern, Isaak Stern, Max Stern, Moritz Stern, Moses Stern, Paul Stern und Siegfried Stern und Siegmund Stern in verschiedenen Funktionen und Ämtern aufgeführt. Mit Beginn der Nazi-Herrschaft 1933 leben 22 jüdische Einwohner/innen in Oberbrechen, von denen 14 in den Folgejahren zwangsweise in die USA bzw. Argentinien auswandern, zwei sterben bzw. in den Selbstmord getrieben werden und zwei wegziehen und später deportiert und ermordet werden. Moses Stern (geb. 1872) wird 1940 nach Frankfurt zwangsumgesiedelt, 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort am 09.10.1942 ermordet. Siegfried Stern (geb. 1879), seine Frau Sophie Stern (geb. 1889) und seine Schwester Jette Stern (geb. 1873) werden 1941 nach Frankfurt zwangsumgesiedelt und von dort 1942 deportiert und ermordet.
siehe auch https://www.chronik-brechen.de/juedische-einwohner-in-oberbrechen-1919-1941 und weitere Themenbeiträge der OnlineChronikBrechen.

© Gregor Beinrucker